Das Stadion als urbanes (Trainings)Lager.
Neoliberalismus und die Kommerzialisierung der Kontrolle
Volker Eick und Jens Sambale, erschienen in:
„Heimspiel. Standort - Sport –
Spektakel“, Berlin: NGBK, 2006
»Die Verhinderung der Fußballweltmeisterschaft 2006
in
Deutschland, das ist ein Thema! Des deutschen Lieblingskind
Fußball wegnehmen, dann werden alle erst richtig
zornig«,
weiß der Autonome Antonio schon im Frühjahr 2000. In
Berlin
diskutierte er in einer Gruppe Autonomer die Zukunft der militanten
Bewegung und »wichtige Zukunftsthemen« (interim,
2000: 25).
Über den Gewinn zorniger Deutscher für die Bewegung
schweigt
Antonio sich aus, aber für flächendeckendes Geplapper
zu
Fußball-WM 2006TM sind – hier wie dort –
zahlreiche
Events und Publikationen (wie dieser Beitrag) beredter Beleg.
Anschaulich haben dagegen bundesrepublikanische Fußballfans
schon
lange vor dem Hype um die WM ihre Wochenenden beschrieben:
»Ob
Videoüberwachung öffentlicher Plätze, das
Anlegen
europaweiter Dateien zur Überwachung von unangepassten Gruppen
oder der vermehrte Einsatz privater Sicherheitsdienste im
öffentlichen Raum […], oftmals dienten die im
Fußballumfeld "getesteten" Sicherheitstechniken als
Grundlage« (BAFF, 2005: 9). Und in der Tat zeichnen sich
Parallelen zwischen dem ab, was auf Bahnhöfen und in
Fußballstadien erprobt und dann in der urbanen
Fläche
umgesetzt wird: Das Stadion kommt in die Stadt.
Denn Metropolen haben sich ähnlich wie Stadien im Verlauf der
vergangenen Jahre von integrativen zu exklusiven Wachstumsmaschinen
entwickelt. Anschaulich zeigen das nicht nur der Umbau etwa
(britischer) Fußballstadien zu Shopping Malls mit
Tornetz-Anschluss, sondern vor allem die gezielten Preis-, Marketing-
und Architekturstrategien, die auf eine neue, kaufkräftigere
und
nicht mehr allein männliche Klientel zielen (Nash, 2000).
Dieser
Prozess wird im Zuge der Neoliberalisierung seit den 1990er Jahren von
der Ausbildung einer (inter)nationalen Städte- und
Stadienhierarchie und der Polarisierung der Städte im Innern
begleitet. Im Kontext einer sich Standortkonkurrenz und Benchmarking
verpflichtenden unternehmerischen Stadtpolitik kommt es in
stadträumlicher Hinsicht zur Ausbildung von Wohlstandsenklaven
auf
der einen und Armutsinseln auf der anderen Seite, die in
betriebswirtschaftlicher Logik aus der Kommerzialisierung kommunalen
Eigentums und der (Re)Kommodifizierung öffentlicher
Räume und
Güter gespeist werden. Die neuen Fußballstadien sind
quasi
Satelliten solcher Enklaven, und das Hamburger Stadion auf St. Pauli
ist, so gesehen – wie der Stadtteil, eher ein
widerständiges
Relikt –, fordistische Folklore.
Räume erobern, überwinden, verteidigen: Urbaner
Neoliberalismus
Sport ist seit jeher – ob im Römischen Empire oder
im
Mittelalter – auch ein Sicherheitsthema (Marschik et al.,
2005).
Tatsächlich ist das Reden über Hooligans der Klassen
B und C
eher Ausdruck von »Moralpaniken«
(Cremer-Schäfer,
1993), denn die Kontrollambition in Fußball- und anderen
Sportstadien hat sich in den vergangenen Jahren im Interesse der
Profitmaximierung verändert und ist generell ein Testfeld
für
neue Identifikations- und Überwachungstechnologien des urbanen
Raums geworden. Es geht um präventive Identifikation,
Kontrolle
und Festsetzung von Menschenmengen, gleich ob es sich um politische
Aktivisten, Fußballfans oder "Überflüssige"
handelt
(STOA, 2000).
»Räume verteidigen, überwinden, erobern.
Diese
Staffelung im Raum kennzeichnet die differentielle Polarisierung der
Konfrontationslinien«, schreibt Walter Prigge (1985).
Für
die Apologeten des Neoliberalismus, die die ökonomische
Bedeutung
des Raums (wieder) erkennen, vielleicht angesichts der
Globalisierungsprozesse erkennen müssen, gilt das analog: Was
Prigge feuilletonistisch fabuliert, wird bei Neil Brenner und Nik
Theodore (2002) zur historischen Rekonstruktion und Systematisierung
des Neoliberalismus: "erobern, überwinden und verteidigen"
übersetzen sie als proto, roll back und roll out
neoliberalism.
Die 1970er Jahre sind danach vor allem vom Bedeutungsgewinn der
Städte gekennzeichnet, in denen ökonomische
Restrukturierungsprozesse und soziale Auseinandersetzungen,
insbesondere in Hinblick auf die soziale Reproduktion (Hamel et al.,
2000), an Bedeutung gewinnen (proto). In den 1980er Jahren beginnen die
städtischen Verwaltungen, so genannte "Kosten reduzierende"
Maßnahmen umzusetzen, öffentliche
(Finanz)Dienstleistungen
zurückzufahren und die Privatisierung öffentlicher
Güter
und Infrastrukturen voranzutreiben. Beispielsweise wurde in dieser
Phase begonnen, den öffentlichen Wohnungsbau zu beseitigen;
konsensuale Vereinbarungen, wie der sozialpartnerschaftliche
Lohnkompromiss zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern (sowie der
Regierung), die Umverteilung von Geldern von der Bundes- auf
Länder- und kommunale Ebene wurden (und werden)
aufgekündigt
(roll back). Schließlich betrachten sie die 1990er Jahre als
Reaktion auf die nicht intendierten Verwüstungen des
Neoliberalismus, die nach einer Antwort verlangten (roll out). Auch
wenn weiter der urbane Raum unter den Imperativen von Wachstum und
Markt mobilisiert und diszipliniert wird: in dieser Phase werden
flankierende Mechanismen und Programme zur Stabilisierung des
Neoliberalismus etabliert, die zunächst wie neue Hoffnungen
daher
kommen. Dazu gehören Ansätze Lokaler
Ökonomie und so
genannte Community-orientierte Programme zur Linderung der Folgen
sozialer Exklusion (Eick et al., 2004: 56-91). Gleichzeitig erproben
die urbanen Eliten neue Formen der Koordination und Netzwerkbildung,
die die zuvor parallel arbeitenden Abteilungen der Lokalverwaltungen
und andere Stakeholder miteinander verzahnen (sollen).
Schließlich vermarkten sie dabei soziale, politische und
ökologische Argumentationsketten (und redefinieren sie dabei
zugleich in ihrer Bedeutung), nicht zuletzt um die ökonomische
Konkurrenzfähigkeit zu erhalten: Soziale Infrastrukturen,
(partizipative) politische Kultur, vermeintlich ökologische
Grundeinsichten und Fragen von Sauberkeit, Ordnung und Sicherheit (SOS)
werden – wo immer möglich – in
ökonomische
Aktivposten für die neoliberale Stadt transformiert. Dieser
Prozess kann als "umkämpftes Gelände" betrachtet
werden, und
Sportevents dienen auch der Durchsetzung solcher Handlungslogiken.
Zwischen Mall und Lager: Die Überwachung des Konsums
In dem Maße wie Sport von u.a. großen
Medienunternehmen
globalisiert und neoliberalisiert worden ist (Wright, 1999), wurden die
eher proletarischen Zuschauermassen in den Stadien ökonomisch
vergleichsweise uninteressant. Die Abschaffung des Publikums aber ist
keine Option. Daher sind parallel neue Marketingkonzepte entwickelt
worden, die die bisherigen Besucher solcher Events durch
kaufkräftigere Besucher austauschen und den Sport insgesamt
»reinlicher« machen sollen (Giulianotti &
Robertson,
2004). Die Parallelen zur "Reinigung" der Innenstädte sind
unübersehbar. Und zumindest für den britischen
Fußball
darf Stadiongewalt und "dritte Halbzeit" auch als eine Antwort der
ausgegrenzten Fußballfans gelten (Armstrong &
Guilianotti,
1998). »Die Fans werden ein ungeliebter Teil der
Blatter-Operettenkultur, das werden die sich die Fans nicht gefallen
lassen«, erwartet etwa der Soziologe Gunter Pilz (Borchers,
2005). Shopping Malls und die entsprechende Ver-Mallisierung von
Fußballstadien, die Kommerzialisierung
innerstädtischer
Räume im allgemeinen und die "Reinigung" und
Kommerzialisierung
von Bahnhöfen im besonderen sind – wie die
Festivalisierung
des urbanen Raums – zentrale Bausteine der
»revanchistischen Stadt« (Smith, 1996).
Während Berlin zur WM um das Olympiastadion vier
Sicherheitsringe
einrichtet und damit CCTV-überwachte Sicherheitszonen schafft,
die
ohne die Inszenierung kaum durchsetzbar wären, wird die
Stadionumgebung während der Spiele zur no go area für
alle,
die weder Eintrittskarte noch FIFA-Akkreditierung besitzen (Paul, 2005:
22). Der Polizeiapparat wird aufgerüstet. So sind allein 85
Beamte bereits jetzt in einer Sonderkommission
"Aufklärung
Fußball-WM" mit dem Auffüllen der Bundesdatei
"Gewalttäter Sport", in die nun auch Graffiti-Sprüher
eingespeist werden, beschäftigt. Die Bundeswehr kommt
–
anders als zur Fußball-Europameisterschaft, die 2008 in der
Schweiz und Österreich stattfindet – dagegen nur zur
logistischen Unterstützung und in den AWACS-Flugzeugen zur
Luftraumüberwachung zum Einsatz. Weiter wird, was in den
Stadien
schon gang und gäbe ist, der gemeinsame Einsatz staatlicher
und
privater Polizei zunehmend in Form von Public private partnerships
ausgeweitet.
So wie neue Technologien die weltweite Verbreitung und Vermarktung des
Sports erst ermöglichten, so haben sie auch die
Kontrollmöglichkeiten ausgeweitet. Techniken wie
Videoüberwachung und RFID (Radio Frequency IDentification) zur
Eingangs- und Bewegungssteuerung sowie -kontrolle setzen sich weltweit
durch. Italien hat in der laufenden Saison personalisierte
Eintrittskarten und lückenlose Videoüberwachung der
Zuschauertribünen eingeführt.
Großbritannien, Vorreiter
in Sachen flächendeckenden Videoeinsatzes im
öffentlichen
Raum und in Fußballstadien, hat im Januar 2006 die
Videoüberwachung im Osten Londons gar der dortigen
Bevölkerung übertragen, die in 20.000 Haushalten mit
400
CCTV-Kameras ihre Nachbarschaft überwachen können
(Weaver,
2006). Während die Ticketvergabepraxis der
FIFA-Verantwortlichen
kritisiert wird, haben die neuen Technologien bisher keine ernsthaften
Akzeptanzprobleme. Circa 50 Millionen Interessenten (für drei
Millionen Tickets in 64 Spielen) gab es bis Oktober 2005, zehn
Millionen haben sich auf dem FIFA-Server mit Name, Geschlecht, Adresse
und Personalausweisnummer registrieren lassen, eine Millionen von ihnen
waren mit der Weitergabe ihrer persönlichen Daten auch an
andere
Unternehmen einverstanden (Behr, 2005). Die FIFA wird so zu einem der
größten Datenhändler in der Bundesrepublik
mit
topaktuellen Daten – und zu einem der Vorreiter für
die
massenhafte Verbreitung einer neuen Technologie, die unter den
Stichworten ubiquitous computing (Mark Weiser), pervasive computing
(Industrie-Terminologie), ambient intelligence (EU-Jargon) diskutiert
wird (Langheinrich & Mattern, 2003). In den Printmedien
läuft
die Vermarktung der Chips mit Überschriften wie
»Joghurt an
Kühlschrank: Bin abgelaufen!« (Kühne,
2004). RFID-Chips
sind Funketiketten, die ausgestattet mit einer kleinen Batterie und
einer Antenne kaum die Größe eines
2-Euro-Stücks
überschreiten und, je nach Preis, eine Reichweite zwischen
wenigen
Zentimetern und mehreren Metern erzielen können –
auf ihnen
kann eine gewisse Anzahl von Daten gespeichert (wie eben die oben
genannten Personaldaten der WM-Stadionbesucher) und an Rechner oder
Lesegeräte zur Weiterverarbeitung übermittelt werden
–
wer wann was wo kauft und wohin transportiert, der Chip klärt
auf,
Bewegungsprofile inklusive. Für die flugticketgroßen
Eintrittskarten hätte die alte Barstrichcode-Technologie
völlig ausgereicht, wie auch die FIFA betont, doch sind, wie
der
Verantwortliche der Consulting Ticketing FIFA WM 2006™
betont,
die in die Eintrittskarten eingebetteten RFID-Chips
»natürlich auch Ausdruck von unseren Visionen. Wir
wollten
etwas Neues machen« (Behr, 2005). Während die Chips
bereits
zur Warenerfassung und in Skigebieten für den Liftzugang
eingesetzt werden, ist ihr Einsatz im öffentlichen Raum bei
Großveranstaltungen wie dem Kölner Weltjugendtag
noch
Neuland. Der W.I.S. Sicherheitsdienst hatte die Chips erfolgreich
genutzt, um die 1.700 privaten Sicherheitskräfte und freien
Mitarbeiter »für ihre Leistungsabrechnung zu
überwachen« (Möller, 2005: 36). Geht es
nach den
Anbietern und den Beiträgen in der Fachpresse des
Supply-Chain-Management und verläuft der WM-Einsatz zufrieden
stellend, dann wird die neue Technologie zukünftig auch die
Zugangs- und Aufenthaltskontrolle im innerstädtischen Raum
verstärkt begleiten. Mal wieder ist der Fußball
dafür
das Einfallstor.
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